Eine Stadtratssitzung zum Fremdschämen – oder: Wie ein Schreiberling ganz plötzlich politisch werden kann und sich vermutlich damit in die eine oder andere Nessel setzt

Also ehrlich. Da gehe ich zum ersten Mal zu einer Sitzung des Rates der Stadt Wolfsburg und „darf“ gleich so etwas erleben.

Aber eines nach dem anderen.

Ach so eins noch, das ich jetzt schreibe, nachdem der Artikel geschrieben ist. Wer es weniger politisch mag, kann getrost an dieser Stelle mit dem Lesen aufhören.

Noch da? Ok. Selbst schuld.

Die Tagesordnung des Rates im öffentlichen Teil war am Mittwoch recht lang. Da auch Dinge Fallersleben betreffend mit dabei waren, hatte ich wenigstens einen trifftigen Grund fast vier Stunde eines sonnigen Spätnachmittags auf der Besuchertribüne zu verbringen. Zeit hatte ich mir extra genommen und so fuhr ich rechtzeitig vor Sitzungsbeginn in Richtung Rathaus.

Viele bekannte Gesichter begrüßten mich sogleich aus dem Ratsrund und tatsächlich waren auch einige Besucher dabei, die ich kannte. Nicht ahnend, was diese zum Teil mit im Schlepptau hatten.

Ein kleiner Abstecher sei mir noch gestattet. Ich bin ein Mensch, der immer versucht alle Seiten zu hören, bevor er sich eine eigene Meinung bildet. Auch denke ich, dass mein Demokratieverständnis recht ausgeprägt ist. Ebenso meine Fähigkeit, innerlich mal zur Seite zu treten, um eine Angelegenheit möglichst neutral und vorurteilsfrei betrachten zu können. Das führt leider oft zu Missverständnissen. Mir wird dadurch gern nachgesagt, SELBST die Position der von mir erklärten Seite einzunehmen. Alles reine Interpretation, aber für mich meist sehr lästig. Deshalb noch einmal klar und deutlich: Nur, weil ich einen Standpunkt verstehen und/oder nachvollziehen kann, ergibt sich daraus noch längst keine Zustimmung.

So also auch an besagten Mittwoch.

In der Einwohnerfragestunde meldete sich ein Herr zu Wort, der beim Rat wohl schon für eine gewisse Beharrlichkeit und längeren Schriftwechsel bekannt zu sein schien. Er kam mit einem brisanten Thema, dass nur zu einem gewissen Teil den Rat der Stadt Wolfsburg betraf, er es aber trotz Hinweis des Ratsvorsitzenden vorbringen wollte. Das Thema war die Aufarbeitung der Coronamaßnahmen.

Und mit einem Mal war mir auch klar, wie ich den Großteil der Zuschauenden einzuordnen hatte. Denn gleich nachdem jener Herr Knipphals als Mikrofon trat, bekam er bereits Zustimmungsbekundungen von der Tribüne.

Nun muss erwähnt werden, dass es bei Ratssitzungen, genauso wie bei Ortsratssitzungen, aber auch im Land- und Bundestag üblich ist, dass Zuschauer zwar zugelassen, Wortbeiträge, Beifall und sonstige Teilnahme am Geschehen aber zu unterlassen sind. Ich finde mit gutem Grund. Die „Auseinandersetzung“ hat im Plenarsaal zu erfolgen. Von den gewählten Vertretern. Fragestunden sind lediglich eine zusätzliche Möglichkeit, Antworten vom Gremium einzufordern.

Die Verlautbarungen des Publikums wurde dann auch sofort vom Ratsvorsitzenden getadelt und um Ruhe gebeten. Das schien die sichtlich aufgebrachten Personen jedoch keinesfalls zu stören.

Kurz darauf wurde bekannt, dass Herrn Knipphals‘ Mikrofon den Ton nicht im Lifestream übertrug. Daher bekam er ein neues zugewiesen. Natürlich quittiert mit süffisanten Kommentaren von der Tribüne.

Zwei Minuten später musste auch dieses Mikrofon aus dem selben Grund entfernt und Herr Knipphals in das Ratsrund ans Rednerpult gebeten werden, damit man ihn verstehen konnte. Diese erneute technische Panne wurde dann bereits recht lautstark als Sabotageakt des Rates gegenüber dem Redner und dessen dem Rat offenbar unliebsame Meinung interpretiert und hämisch kundgetan.

In seinem längerem Statement forderte der Redner schlußendlich den Rat der Stadt Wolfsburg auf, für die während der Coronakrise getätigten Entscheidungen einzustehen und sich zu entschuldigen. Das ist hier an dieser Stelle nur sehr verkürzt wiedergegeben. In Wahrheit waren die folgenden über 30 Minuten gefüllt mit Aufforderungen des Ratsvorsitzenden Ralf Krüger an den Vortragenden, er möge auf den Punkt kommen und eine Frage stellen. Wiederum unterbrochen durch zum Teil unflätige Zwischenrufe aus dem Publikum, gefolgt mit der Bitte um Ruhe auf der Tribüne. – Erfolglos.

Zu guter Letzt folgten dann noch Forderungen nach Rücktritt des Rates, Handschellen anlegen, Einsperren und Schlimmeres.

Ich dachte, ich sitze im falschen Film.

Ich kann verstehen, dass Menschen über die Maßnahmen während der Pandemie erzürnt waren und sind. Auch ich konnte Vieles vom Verstand her nicht nachvollziehen. Nicht weil ich oder diese Menschen dumm sind, sondern weil diese Maßnahmen keinen Sinn ergaben. Welche? Naja zum Beispiel das ohne Maske nicht alleine auf einer Parkbank sitzen dürfen (München war das glaube ich). Oder Maskentragen im Allerpark. Sind nur ein paar Beispiele und ich will darüber jetzt auch nicht diskutieren. Aber ich kann den Unmut verstehen.

Natürlich ging es dann auch um „Impflicht“, „Impfschäden“ usw. Das ganze Programm. Klar, dass im Ratsaal bald die Luft brannte. Schreie, Buhrufe und Pfiffe von der Tribüne. Ein Ratsvorsitzender der Ruhe herstellen wollte.

Und ich mittendrin denkend: Was geht denn hier ab?

Im Grunde genommen spiegelte sich im Ratssaal unsere Gesellschaft wieder. Da gibt es Menschen, die mit etwas unzufrieden sind. Und da gibt es Menschen, die versuchen, das Beste für Stadt und Land zu machen. Das sehen die Unzufriedenen aber ganz anders. Dabei werden sie dann meist (oft) noch von einer Partei unterstützt, die den Menschen, die etwas zu sagen haben, aber nicht in den Kram passt. Deshalb haben sie beschlossen, mit dieser Partei und deren Sympathisanten gar nicht erst zu sprechen. Das finden aber weder Partei noch Sympathisanten witzig.

Also auf der einen Seite nicht wenige Menschen, die durchaus berechtigte Einwände gegen bestimmte politische Vorgänge haben und diese Themen auf die Agenda bringen wollen. Auf der anderen Seite Menschen, die nichts gelten lassen, was von dieser Partei oder ihren Anhängern kommt, allein weil es von dieser Partei und ihren Anhängern kommt.

Also weiter wie bisher.

Die Themen bleiben weiter unter dem Tisch.

Die einen macht das natürlich noch wütender. Sie werden einfach nicht gehört. Und die anderen stehen da, halten sich Augen und Ohren zu und wollen nichts hören oder sehen.

Schlußendlich werden, die Nichtgehörten immer lauter. Sammeln weiter Anhänger um sich. Gewinnen Wahlen. Sogar Mehrheiten.

Reaktion der Augen- und Ohrenzuhalter? – Nichts. Mit denen reden wir nicht. Wir wollen so weitermachen wie bisher.

Mal ehrlich Leute. Ist das noch Demokratie?

Wenn den Menschen Themen unter den Nägeln brennen, dann kann ich das doch nicht einfach aussitzen und ignorieren. Wer nie gehört wird, wird wütend. Und wer wütend ist, handelt emotional. Und wer emotional handelt, handelt nicht mehr sachlich und nüchtern. – Und dann gibt es irgendwann Krawall.

Darauf kann ich für meinen Teil getrost verzichten.

Vor vielen Jahrzehnten war ich selber parteipolitisch unterwegs. Da war noch Vieles ganz anders. Und – bezogen auf demokratischen Umgang und Diskussionskultur viel besser.

Wenn der politische „Gegner“ etwas auf den Tisch brachte, dann hörte man sich das an. War es schlecht, dann nahm man ihm mit guten Sachargumenten ganz leicht den Wind aus den Segeln und gut. War es ein guter Ansatz, dann nahm man das Thema auf, verbesserte es und brachte es als eigene, viel bessere Idee unters Volk. Wieder den Wind aus den Segeln genommen und gleichzeitig Punkte bei denen gesammelt, die die Idee „der anderen“ einfach abgearbeitet sehen wollten.

Fazit: Es kamen die Themen auf den Tisch, die die Menschen bewegten.

So sollte es meines Erachtens auch heute noch sein.

Ist es aber nicht.

Wenn ich dem politischen „Gegner“ nicht zuhöre, ihn zu verstehen versuche: wie will ich ihn dann „auseinandernehmen“? Ich kann doch nicht erwarten, dass die Menschen eine bestimmte Partei nicht mehr wählen, wenn ich sie gleichzeitig alle als Volltrottel hinstelle, mit denen es nicht lohnt zu reden. Gerade wenn sie mittlerweile ein einigen Bundesländern über 30% der Wählerstimmen bei einer wirklich Wahlbeteiligung von über 70% erhalten. Wie viele Menschen sind das? Kann / darf ich das einfach ignorieren?

Ich finde, das ist fatal. Denn es treibt noch mehr Menschen in ihre Hände.

Völlig falscher Ansatz.

Man könnte viele „Argumente“ so einfach entkräften, Themen wie oben beschrieben zu den eigenen machen. Damit hole ich die Menschen wieder zu mir zurück. Und dann kann und soll ich natürlich aufzeigen wohin die „andere“ Politik führen wird. Damit nehme ich wieder Stimmen weg.

Aber dastehen. Weitermachen wie gehabt. Taub stellen. Stumm bleiben. Den „Gegner“ einfach nur schlecht machen. (Was meiner Wahrnehmung nach alle machen)

Das geht in die Hose. Voll!

Siehe Sachsen und Thüringen.

So, das war ein kleiner Ausflug in die Bundespolitik.

Was hat das mit Stadtrat zu tun?

Hier spielte sich (nach meinen Beobachtungen) genau das selbe ab. Herr Knipphals hat wohl schon seit vier Jahren schriftlich mit dem Rat wegen seines Themas in Verbindung gestanden. Geschehen ist anscheinend nichts oder wenig. Das kann daran liegen, dass Herr Knipphals keine Ruhe geben kann oder will. Oder es liegt daran, dass seitens des Rates keine befriedigenden Aussagen gegeben wurden oder gegeben werden wollten.

Ja, das ist unbefriedigend, Herr Knipphals. Aber nicht jeder kann immer alles bekommen, nur weil er oder sie laut genug schreit. Gleichzeitig nehme ich wahr, dass dennoch Gruppen, die sehr laut schreien, sehr wohl ihre Sache durchbringen. Selbst gegen den Willen einer (schweigenden) Mehrheit. Haben diese Gruppen vielleicht nur das richtige Parteibuch? Die richtige Lobby?

Freunde, Römer, Weggefährten.

So geht das nicht.

Politik ist ein schweres Geschäft. Und Politik ist frei nach einem Zitat die „schlechteste aller denkbaren Regierungsformen. Dennoch haben wir bisher nichts Besseres.“

Warum macht ihr das alles zu Nichte?

Ihr, die ihr lauthals auf die Straße geht und so lange schreit, bis ihr bekommen habt, was ihr wollt. Egal, ob das dann lediglich eine Minderheit mitträgt.

Oder ihr, die ihr die Weisheit mit Löffeln gefressen habt und glaubt, dass alle anderen dumm sind und nur ihr wisst, was gut und richtig ist.

Und warum beißt man dann nicht in den sauren Apfel und lässt das Wählervotum einfach mal so stehen? Ja, es ist blöd, wenn dann plötzlich die anderen am Ruder sind. Das ist Demokratie. Dumm gelaufen. Aber andererseits müssen die Schreihälse dann auch abliefern. Habe ich als Partei selbst so wenig Selbstvertrauen zu mir und meinen Argumenten, dass ich mich nicht in der Lage wähne, die anderen ganz gekonnt auszubooten und ihnen das Leben aus der Opposition heraus richtig schwer zu machen?

Mit Tricks aus der Grauzone mit allen Mitteln an der Macht bleiben zu wollen ist meines Erachtens der absolut falsche und auch gefährlichere Weg.

Doch zurück zur Ratssitzung. Dem aufmerksamen Leser, der aufmerksamen Leserin ist das Hauptthema dieses Beitrags vielleicht noch schwach in Erinnerung geblieben.

Sind Einwohnerfragestunden gut und richtig? – Auf jeden Fall. Nur so hat jeder Bürger, jede Bürgerin die Chance auch zwischen den Wahlterminen öffentlich auf Belange hinzuweisen und Debatte und wenn möglich auch Handlung anzustoßen.

Sollte die Dauer der Einwohnerfragestunden zeitlich begrenzt sein? – Ja. Das soll nicht heißen, dass Bürgeranliegen nicht ernst genommen werden. Aber nicht alles und jedes kann vor einer Sitzung diskutiert werden. Das sprengte den Rahmen. Zudem gibt es jederzeit die Möglichkeit auch schriftliche Eingaben zu machen oder den Stadtrat oder Stadträtin des Vertrauens direkt „ins Gebet“ zu nehmen.

Sollen Zuschauer bei Ratssitzungen still bleiben? – Auch hier sage ich ja. Der Ort des Geschehens ist das Ratsrund. Die Akteure sind die gewählten Vertreter derjenigen, die dabei zuschauen dürfen. Zuschauen! Nicht applaudieren. Nicht kommentieren. Nicht protestieren. Blöde Regel? Vielleicht. Aber eine sinnvolle. Sonst wäre das Chaos vorprogrammiert – Was wir ja in der beschriebenen Sitzung gesehen haben.

Zweites Fazit:

Wer in die Politik geht / gehen will und nicht bereit ist zuzuhören, sowohl „dem Volk“ als auch ganz besonders dem politischen Gegner, der sollte es lassen.
Wer nicht bereit ist nach den Spielregeln zu handeln, denn sie haben ihre Gründe, der sollte es lassen.
Und diese Regel gelten für ALLE Teilnehmenden am Diskurs.

Demokratie. – Nicht optimal, aber wie gesagt, wir haben nichts Besseres. Lassen wir sie unbeschadet!

Gehe ich wieder zu einer Ratssitzung? – Ganz sicher. Kann ja nur besser werden.

Und wenn ich Glück habe, gibt es wieder argumentativen Zoff. Aber dort, wo er hingehört: Ins Ratsrund. 😉

Der Flaneur (unterwegs)